Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung

Sachliteratur

Das Buch widmet sich dem allgegenwärtigen „Imperativ der Kreativität“ und scheitert dabei an seiner Weigerung, systemische Kritik zu üben.

Das spätkapitalistische Phänomen „Popstar“ als vermeintliches perpetuum mobile der Aufmerksamkeitsgewinnung begreifen. Depeche Mode in der O2 Arena in London, Dezember 2009.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Das spätkapitalistische Phänomen „Popstar“ als vermeintliches perpetuum mobile der Aufmerksamkeitsgewinnung begreifen. Depeche Mode in der O2 Arena in London, Dezember 2009. Foto: Sunil060902 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

20. März 2017
0
0
7 min.
Drucken
Korrektur
Einst auf den Bannern der '68er-Bewegung, heute in den Büros von google und Co. Nichts steht wohl so beispielhaft für die Wandlung sowie für die ökonomische und kulturelle Anpassungsfähigkeit des Nachkriegskapitalismus wie das „Ideal“ der Kreativität. Kein Wunder also, dass sich Andreas Reckwitz in seinem bereits 2012 erschienenen Buch „Die Erfindung der Kreativität“ dieser zunächst irritierenden Entwicklung zuwendet. In Anknüpfung an Michel Foucault unternimmt er dabei eine genealogische Untersuchung des spätkapitalistischen „Kreativitätsdispositivs“. Mit anderen Worten: Eine historische Untersuchung, der es nicht so sehr um die Festsetzung eines genauen „Geburtsdatums“ der Kreativität geht, sondern vielmehr um den komplexen und zum Teil auch widersprüchlichen Entstehungsprozess kreativer Praxen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten.

In diesem Sinne verfolgt der Autor die Entfaltung des Kreativitätsideals in „westlichen“ Gesellschaften mehr als 200 Jahre und durch verschiedene Institutionen und kulturelle Auswüchse der Spätmoderne zurück: Von der massenmedialen Inszenierung des „Popstars“, dem Leitbildcharakter der Kreativität in der angewandten Psychologie der Vor- und Nachkriegszeit bis hin zur gegenwärtigen „Explosion“ der Creative Industries in Mode, Werbung, Architektur und Design. Kreativität umfasst Reckwitz' Ansicht nach dabei „eine Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung: Man will kreativ sein und soll es sein“ (S. 10, Herv. i. O.). Kaum eine_r, so die These, kann sich der beständigen und zuweilen erschöpfenden Erwartungshaltung des Kreativen entziehen (siehe hierzu auch die Rezension zu „Caliban und die Hexe" in Ausgabe 29).

Es wäre also durchaus einiges zu erwarten von diesem Werk. Reckwitz' durchgehende Skepsis, die kulturellen Wandlungen, die er beschreibt, mit den Mechanismen kapitalistischer Verwertung in Verbindung zu setzen, trägt jedoch zu einer sehr ernüchternden Lektüre bei. Dass es auch anders geht, zeigen zum Beispiel Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“. Fast schon krampfhaft hingegen müht sich Reckwitz, die ökonomische Kehrseite spätmoderner Kulturphänomene kleinzureden oder gar völlig auszublenden. Unfreiwilliger (und geradezu ironischer) Weise sorgt genau diese Ausklammerung für die unterhaltsamsten Momente in Reckwitz' Buch: Nämlich dann, wenn seine Analyse von ihrem verdrängten Rest – einer ausbeuterischen kapitalistischen „Realität“ – wieder eingeholt wird. Dazu aber später mehr.

Vom bürgerlichen Kunstfeld zu den „Creative Industries“

Zunächst lohnt es sich, Reckwitz auf seinem Analyseweg zumindest ein Stück weit zu folgen. Die Kernthese seines Buches findet der Autor in der Annahme, dass insbesondere die „Gegenkultur“ der 1960er und 1970er Jahre eine Aufwertung des Kreativen und damit auch seine Ausbreitung bis weit hinein in die „Mitte“ der Gesellschaft erst ermöglicht hat. Die entscheidende Bruchstelle im Übergang von älteren Modi kapitalistischer Akkumulation in den heutigen „ästhetischen Kapitalismus“ (S. 11) sieht der Autor somit in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. An die Stelle der relativ stabilen Berufsbilder und Beschäftigungsverhältnisse des Nachkriegs-Fordismus sind

„Tätigkeiten getreten, in denen die ständige Produktion von Neuartigem, insbesondere von Zeichen und Symbolen (Texten, Bildern, Kommunikation, Verfahrensweisen, ästhetischen Objekten, Körpermodifizierungen), vor einem an Originalität und Überraschung interessierten Publikum zur wichtigsten Anforderung geworden ist: in den Medien und im Design, in der Bildung und in der Beratung, in der Mode und in der Architektur“ (S. 11).

Allein in diesen Zeilen wird Reckwitz' – zunächst noch nachvollziehbare, später dann überstrapazierte – Betonung des „Neuen“ deutlich. Dennoch steckt er hier ein beeindruckendes und keineswegs unwichtiges Forschungsfeld ab, an dem er sich auf über 350 Seiten mehr als gründlich abarbeitet.

Wer sich durch diesen Blätterwald hindurchkämpft, wird tatsächlich mit einem klareren Blick auf das „Kreativitätsdispositiv“ belohnt und darin liegt trotz aller Vorbehalte der Mehrwert von Reckwitz' Untersuchung. Die Einleitung sowie das erste und das abschliessende Kapitel fussen auf eher allgemein-theoretischen Überlegungen zum „Imperativ der Kreativität“ und betten Reckwitz' Argumentation in eine hilfreiche Rahmenerzählung ein. Grundlegend für das gesamte Buch ist die Idee, dass die enge Abgrenzung eines bürgerlichen Kunstfeldes vom Rest der Gesellschaft im späten 18. und 19. Jahrhundert die heutige Ent-Grenzung der Kunst erst ermöglichte.

Zu dieser „Popularisierung“ der Kunst trugen einerseits die sogenannten Creative Industries bei – also Berufe in Werbung, Design, Kommunikation und Architektur. Andererseits steuerte das Aufkommen der Psychologie und Psychotherapie ihren Teil bei, indem beide zunehmend das Leitbild eines (selbstverantwortlichen und zutiefst individualisierten) Künstler- und Geniesubjekts propagierten und dieses – spätestens in den 1950er und 1960er Jahren – im Alltagsdiskurs verfestigten. Heute verdichten sich diese Entwicklungen im urbanen Raum und im Leitbild der „kreativen Stadt“ – samt ihrer (Luxus-)Lofts, Konsumräume und auf den „touristischen Blick“ ausgerichteten Stadtviertel. Wie bereits erwähnt, bieten alle Kapitel durchaus Lesenswertes und nach und nach fügt sich tatsächlich so etwas wie ein „Gesamtbild“ des Kreativitätsdispositivs zusammen. Wirklich spannend – wenn auch unbeabsichtigt – wird es jedoch, als sich Reckwitz mit der massenmedialen „Genese des Starsystems“ (S. 239) nach Ende des zweiten Weltkrieges auseinandersetzt. Seine Weigerung, das Kreativitätsdispositiv (abgesehen von der relativ leeren Begriffshülse des „ästhetischen Kapitalismus“) mit wirtschaftlicher Inwertsetzung in Verbindung zu bringen, bricht sich bezeichnender Weise genau hier Bahn. Nämlich dort, wo die Parallelen zwischen konsumorientierter Massenkultur und Ökonomie schlichtweg nicht mehr zu leugnen sind.

Kapitalismus als „Wiederkehr des Verdrängten“

Denn Reckwitz' Werk wird hier von seinem verdrängten Rest, einer ausbeuterischen kapitalistischen „Realität“, unfreiwillig wieder eingeholt. Das klingt – in Bezug auf das Phänomen „Popmusik“ – dann etwa so: „Charakteristisch für die Popmusik ist dabei, dass versucht wird, die Anzahl der neuen komponierten Musiktitel zu erhöhen und deren Umlauf zu beschleunigen“ (S. 258). Das stimmt wohl. Aber wäre es nicht treffender zu fragen, ob es nicht charakteristisch für den Kapitalismus insgesamt ist, die Anzahl neuer Waren zu steigern und deren Umlauf zu beschleunigen? In ähnlicher Weise mündet Reckwitz' Ausklammerung ökonomischer Dynamiken in fast schon hilflose und mitunter rein tautologische (das heisst sich selbst begründende, „kreisförmige“) Erklärungsversuche. Wenn er sich etwa bemüht, das spätkapitalistische Phänomen „Popstar“ als vermeintliches perpetuum mobile der Aufmerksamkeitsgewinnung zu begreifen, mündet das in eine derart selbstreferentielle (und sprachlich aufgeblasene) Satzschleife, dass sich die grundlegende Erklärungsnot von Reckwitz' Studie hier in fast schon selbstverräterischer Weise enttarnt:

„Dieser [der Star] wird als derjenige sichtbar, der kollektive enthusiastische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Schliesslich richtet sich die Aufmerksamkeit auf den, dem ohnehin schon Aufmerksamkeit gezollt wird. Das Ergebnis ist die kulturelle Attraktivität des Attraktiven“ (S. 260).

Solche Textstellen hinterlassen einen faden Nachgeschmack. Er besteht keineswegs darin, dass Reckwitz' Ausführungen durchweg falsch wären oder nicht auch viele spannende Einblicke in die ästhetischen Regime des „Neuen“ lieferten. Der Frage aber, wie die Kulturalisierung und Ästhetisierung urbaner (und anderer) Räume mit der Funktionsweise und dem Wandel kapitalistischer Akkumulation zusammenhängen, wie Ökonomie und Kultur, Profitstreben und urbane Atmosphärenschaffung ineinandergreifen (beziehungsweise auch auf unvermeidbare Widersprüche zusteuern) weicht Reckwitz aus. Ja, schlimmer noch: Er hält diese Frage, die alles entscheidend wäre, für schlichtweg falsch.

An ihre Stelle setzt er schon zu Beginn des Buches die poststrukturalistische Annahme, dass soziale Phänomene keiner übergeordneten (etwa: kapitalistischen) Logik folgen, sondern „ganz generell in einem ständigen Prozess des Entstehens und Verschwindens, des Neuknüpfens und Auflösens begriffen sind“ (S. 16). Dazu nur ein Gegenargument: Reckwitz setzt hier in ein sehr einseitiges Verständnis von „Kapitalismus“ voraus. Nämlich eines, das „den“ Kapitalismus als starre, fixierte und in sich geschlossene Einheit begreift, die stets nach demselben Muster agiert und keinen Raum lässt für Widersprüche, Fragmentierungen und feine Differenzen. Zugegeben, es fällt schwer, sich von den althergebrachten, sehr eindimensionalen Bildern zu lösen, die sich „der“ Marxismus viel zu oft vom Kapitalismus gemacht hat – etwa dem einer weissen, männlichen Arbeiterschaft als Triebkraft der Geschichte auf dem Weg in den Kommunismus (siehe hierzu auch die Rezension zu „Cartographies of the Absolute" in Ausgabe 38).

Aber muss man sich deswegen gleich in die Arme eines absoluten Relativismus werfen, für den Herrschaft (sei sie verankert im Patriarchat, in Klassenverhältnissen, Heteronormativität, Rassismus et cetera) mehr oder weniger zum Zufallsprodukt wird? Zurückgewendet auf Reckwitz' Untersuchung bedeutet dieser Relativismus nämlich nichts anderes, als dass wir uns über Kulturalisierung, Ästhetisierung, Atmosphären und Kreativität nach wie vor den Kopf zerbrechen dürfen; um das Zusammenspiel dieser (zweifelsohne beobachtbaren) Entwicklungen mit einem von Ausbeutung, Ausgrenzung und Prekarisierung geprägten kapitalistischen Alltag sollen wir uns dagegen nicht mehr kümmern. Genau in dieser – analytisch verkürzten und politisch gefährlichen – Zweiteilung von Kultur und Ökonomie besteht der fade Nachgeschmack des Buches.

Fabian Namberger
kritisch-lesen.de

Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Suhrkamp, Berlin 2012. 408 Seiten, ca. 24.00 SFr, ISBN 978-3-518-29595-3

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.